Verein: Wohlfühloase oder Streithölle

Niemand ist zum Arbeitsdienst gekommen! Ernst ist stinksauer.

Die Hecke muss noch geschnitten werden. Den maroden Zaun haben sie mittlerweile gestrichen, das Vereinsheim ausgefegt und die Toiletten gereinigt – er und Karl-Heinz, der zweite Vorstand. Woher diese erstaunliche Anhäufung an beinahe tödlichen Erkrankungen, schweren Unfällen und spontanen Familiendramen bei den jüngeren Mitgliedern pünktlich Freitagabend vor dem Arbeitssamstag kommt, lässt sich nur spekulieren. Dieses bemerkenswerte Phänomen schleicht sich mehr und mehr ein, obwohl der Hundeplatz ansonsten immer gut von Trainingsgruppen bevölkert wird. 

Jetzt müssen die beiden alten Männer doch noch den Rasen alleine mähen, damit morgen der eifrige Vereinsnachwuchs nicht stolpert oder nasse Hosen bekommt. Ernst ist Platzwart und überlegt sich einmal mehr, diesen Posten an den Nagel zu hängen. Es ist mittlerweile bereits ein Drama, den Kantinendienst zu organisieren oder ein ausgefegtes Vereinsheim nach dem Training zu hinterlassen. Und der Platz soll auch immer picobello zur Verfügung stehen!

Ernst und Karl-Heinz sind beileibe nicht die überzeichnete Karikatur angestaubter Vereinsdinosaurier: Ein Verein lebt von dem Prinzip des “freien Zusammenschlusses” von Menschen, die ähnliche Ziele verfolgen und sich gegenseitig darin unterstützen. Sogar im Grundgesetz verbrieft als schützenswertes Grundbedürfnis, erfüllt dieser Zusammenschluss auch historisch einen wichtigen gesellschaftlichen Zweck: 

Ein Verein fängt Menschen dort auf, wo sie alleine durch Lücken in sozialen oder staatlich organisierten Gesellschaftsstrukturen fallen würden.

Unsere Hundesportvereine erfüllen neben kynologischen Aufgaben ebenso diesen sozialen Zweck – und werden deshalb überwiegend als “gemeinnützig” klassifiziert. 

Das funktioniert aber nur, wenn die Mitglieder auch aktiv mitwirken, den Verein am Leben zu erhalten!

Aber die Zeiten haben sich gravierend geändert. Würde man Platzwart Ernst fragen, bekäme man eine Schimpftirade über “respektlose Tonnenhopser” mit mitgebrachtem Essen und Heuschreckenverhalten zu hören. Denen sei das “Vereinsleben” völlig egal. Vorstände und Ausbildungswarte nicht mehr als Hindernisse, die ihrer hemmungslosen Ausbreitung im Weg stünden. Und seitdem der Vorstand notgedrungen die ganzen Trainingsgruppen zugelassen hat, um den Verein zu finanzieren, gehe es rasant bergab. Ernst kann “Agility” und “Obedience” kaum aussprechen, aber er erinnert sich, dass mit deren Aufnahme ein beängstigender Umschwung geschah. 

Aber reagiert der alte Mann nicht über? Letztendlich bringen genau diese “Funsportarten” doch auch neue Mitglieder!

Der heutzutage so beliebte “Breitensport” war bis vor gut vier Jahrzehnten eher unüblich – nicht nur im Hundewesen. Es gab zwar leistungsorientierte Vereine, die häufig diensthundehaltende Behörden unterstützten und so dem reinen “Sport” einen höheren, durchaus auch repräsentativen Zweck verschafften. Aber diese “Polizeihundesportvereine” waren keine Dienstleister für jedermanns Freizeitbeschäftigung. Wer zu den “Polizeihundefreunden e.V.” kam, tat dies aus persönlichem Interesse an der Arbeit mit Gebrauchshunden. 

IGP-Helferarbeit in der AusbildungDa galt allerdings auch, gewisse Eigenheiten und Traditionen zu akzeptieren, die sicherlich nicht immer vorbildlich waren. Dem gegenüber standen die Rassezuchtvereine, denen besagte Rasseerhalt und -veredelungen oblagen und die Sport nur im Sinne von “zuchtrelevanten Leistungsprüfungen” betrieben. Wer sich dort einzubringen versuchte, tat dies aus Liebhaberei der betreffenden Hunderasse. 

Die heutige Bandbreite an Sportangeboten gab es damals nicht. Sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass die Bevölkerung zu dieser Zeit gar nicht auf die Idee kam, gezielt Freizeit mit privatem Sportvergnügen mit dem Hund zu füllen. Ein typisches Merkmal der Moderne ist nicht nur die schiere Internationalität und globale Vernetzung. Es sind auch die stetig wachsende Vielfalt und Trends an sportlicher Betätigung – weitestgehend losgelöst von Rassezuchtgedanken. 

Diesem sich verselbstständigem Interesse an “Sport für jeden” in der breiten Öffentlichkeit folgt natürlich unweigerlich der Konsum: ganze Wirtschaftszweige fußen darauf, dem Hundler und seinem Vierbeiner Sport und Freizeit zu erleichtern. Noch nie waren die Verletzungsprophylaxe, Vorsorge, Nachsorge, Fütterung, Trainingspläne, Sportgarderobe und hilfreiche “Trainingsuten-silien” so marktbeherrschend wie heutzutage! Nahezu jeder kann sich auf dem Hundeplatz wie ein umsorgter Profisportler fühlen – insofern der Geldbeutel diesen Luxus hergibt.

 

 

Aber nicht nur die materielle Wertigkeit des sportlichen Umfeldes hat sich verändert: Ehrenamt und Engagement in allgemeinnützlichen Vereinen boomt, da es sich hierbei um gesellschaftlich relevante Thematiken rund um aktives soziales Umfeld und “lebenslanges Lernen” in Selbstverantwortlichkeit dreht. Dies gilt als wertvolle Errungenschaft. Allerdings hat sich das allgemeine Verständnis davon gravierend verändert: 

Wissen ist heutzutage Allgemeingut, das nicht mehr elitären Kreisen vorbehalten wird  

und so finden wir “Hundesportler” dieses nicht mehr nur bei Wind und Wetter auf dem Platz. Oft ruht der vierbeinige Athlet entspannt auf der Couch oder im orthopädisch geformten Körbchen, während der Zweibeiner sich am Computer via Online-Seminaren fortbildet! Die neu errungene Idee wird dann im privaten Trainingsraum oder im Garten vor dem großen Spiegel so lange einstudiert, bis sie stolz auf dem Platz vorgeführt werden kann. Dazu braucht es keinen Ausbildungswart mit altertümlichen Methoden! Und warum den Rasen mähen, wenn man die Hauptarbeit doch zu Hause in Eigenleistung erbracht hat?

Agilitytraining: Experten trainieren die JugendDer Blick geht heute auch immer öfter in die Ferne oder über den Tellerrand, wie man so schön sagt. Wer international bekannt ist, muss “mehr” zu bieten haben als der altgediente Helfer oder Ausbilder der eigenen Ortsgruppe. Obwohl dessen 50, 60 Jahre Erfahrung dann gegenüber jemandem stehen, der selbst durch Fleiß, Teamarbeit und dem “richtigen” Hund binnen weniger Jahre eine hohe Platzierung erringen konnte, jedoch nie mit den Erschwernissen von “Basisausbildung” an weniger geeigneten Hunden in Berührung kam.

Früher haben sich wichtige Verbandsfunktionäre und Leistungsträger in geschlossenen Seminaren getroffen, um Grundlagen für die Multiplikation von Wissen durch Übungsleiter und Ausbildungswarte zu erarbeiten. Erfolgreiche Ausbildung war deutlich personenbezogener: Wer Erfahrung und kynologisches Fachwissen als Trainer besaß und entsprechend an seine Mitglieder weitergeben konnte, garantierte Ansehen und auch Wert eines Vereins. 

Statt aus diesen reizvoll unterschiedlichen Perspektiven eine gemeinsame Wissensbasis zu schaffen und zu pflegen, hält die Kommerzialisierung Einzug: Aus besonderen Erfahrungen wird persönlicher Profit geschaffen. So wie es private Hundeschulen vormachen.

Heutzutage ist es für einzelne Personen fast unmöglich, in diesem Überangebot an frei verfügbarem “Wissen” den geforderten Vorsprung zu halten: Geht es nicht explizit um den aktuellen Kreismeister, Bundessieger oder sogar Weltmeister, orientieren sich die Mitglieder an Sympathie und “Lusterleben”. Der kleine Ortsgruppenausbildungsleiter ist fachlich nicht relevant. Trainer sind austauschbar geworden: Bei Unzufriedenheit wird einfach gewechselt. Auch innerhalb einzelner Vereine bilden sich häufiger kleine Gruppen, bei denen es mehr um persönliche Sympathie und Meinungsbildung geht als um den Hundesport und die Repräsentation des Gemeinguts “Verein”. Spielt der dort gebotene Rahmen nicht mit, wird auch schon mal der gesamte Verein gewechselt. Manchmal der regelrechte Todesstoß, der nach mehreren Jahrzehnten Aufbauarbeit zur Auflösung führt. 

Kommerzielle Ausbilder werben mit qualitativ überlegener Wissensvermittlung gegen horrende Summen – der Trend geht zu “Marken”, die ähnlich gehandelt werden, wie die neueste Funktionsjacke für die ungemütlichen Jahreszeiten.

Man kann diese Entwicklung einerseits begrüßen, da Mitglieder zu weitreichender Selbstverantwortung angeregt werden. Schließlich tragen sie Veranwortung für das Wohlergehen ihres Hundes, ob er nun gerade über den frisch gemähten Rasen in vorbildlicher “Fuß”-Position flaniert oder zu Hause beim Gassi an der Leine im nächsten Matschloch wolllüstig versinkt. Primär ist es ein Hund, unser Sozial-partner, der mit uns zusammen in zeitlich begrenztem Rahmen Freizeitsport betreibt. Da muss das Angebot und der Umgang im Verein zum sonstigen Leben passen. 

Auf der anderen Seite sind Vereine nach wie vor – und hier schlägt sich die Brücke zur historischen Bedeutung solcher Zusammenschlüsse – wichtige Umfelder, die ohne Pflege und Engagement verkümmern. Damit tun wir uns keinen Gefallen, denn wir schließen uns nach wie vor Vereinen an, um uns zu identifizieren, unsere Interessen zu verfolgen und die Lücken auszufüllen, die unser soziales Umfeld ansonsten leer ließe:

Es ist und bleibt ein Geben und Nehmen! 

Und dazu gehört auch, dem alten Platzwart Ernst zumindest zum vereinbarten Arbeitseinsatz den Rasenmäher aus der Hand zu nehmen, auch wenn er häufiger schimpft und von “guten alten Zeiten” träumt. ■

Vereinsleben

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